IM REICH DER BILDER

In Zeiten der Bilderfluten, die das Web und insbesondere die Social-Media-Kanäle überschwemmen, bietet die Galerie Norbert Nieser „in Stuttgarts wildem Süden“ eine Form der Kunstbegegnung geprägt von Ruhe, bewusster Betrachtung und der Verführung zum Verweilen vor ausgewählten Fotografien. Seit 1998 ist die Galerie eine tragende Säule der Szene, die viele Talente gefördert hat.

Zum Zeitpunkt, da diese Zeilen entstehen, stehen die Zeichen nicht günstig für Orte, an denen Menschen zusammenkommen. Es ist Ende März, die Anti-Corona-Maßnahmen greifen. Konzerte und Events werden verschoben, Treffpunkte des kulturellen Lebens bleiben geschlossen. Auch Norbert Nieser, Eigentümer der nach ihm benannten Galerie in Stuttgart Degerloch musste jüngst zwei Ausstellungen absagen. Vielleicht ist der Ausnahmezustand beim Erscheinen unseres Magazins bereits vorüber, vielleicht auch nicht, noch bringt jeder Tag Neues. Hier allerdings gibt es die Einladung, mit den folgenden Seiten das Reich der Bilder zu betreten.

Vor 22 Jahren öffnete Norbert Nieser erstmals die Türen zu seiner Galerie, die sich innerhalb kurzer Zeit zu einer der ersten Adressen für junge Talente und renommierte Fotografen entwickelt hat. Sie bietet nationalen und internationalen Künstlern Raum, ihre Werke auszustellen, und hat seit ihren Anfängen die Stuttgarter Fotoszene maßgeblich mitgeprägt – als sogenanntes „lebendiges Netzwerk“. „Unter lebendigem Netzwerk verstehe ich, dass sich bei uns im Haus gleichgesinnte Fotokunstbegeisterte treffen können, um sich auszutauschen, Kontakte zu knüpfen und neue Projekte rund um die Fotografie zu finden. Und natürlich geht es auch um Kunstvermittlung: darum, Menschen für Kunst zu begeistern und eine Schnittstelle zwischen Künstlern und Käufern zu schaffen“, erklärt Norbert Nieser, der weder in seinem Wesen noch seinem Äußeren das Extravagante zeigt, das in vielen der meist großformatigen Bilder in seinen Galerieräumen zu finden ist. Vielmehr weckt der kunstbegeisterte Mann Assoziationen an Thomas Mann und dessen Statement: „Man ist als Künstler innerlich immer Abenteurer genug. Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und sich benehmen wie ein anständiger Mensch.“ Auch optisch erinnert der Galerist ein wenig an den Schriftsteller, der das Künstlerische und das Bürgerliche vereinte, auch wenn Norbert Niesers Metier die Fotografie ist. Möglich, dass das Bodenständige mit seiner ursprünglichen Profession zusammenhängt, denn Norbert Nieser studierte zwar auch Fotografie, aber ebenso Informatik und Betriebswirtschaftslehre. „Ich kam nach dem Studium der Fotografie in England Mitte der 90er nach Deutschland zurück – und musste damals feststellen, dass es kaum einen Markt für Fotokunst gab, und auf einer eigenen Vernissage musste ich erleben, dass sich niemand für meine Bilder und den Künstler interessierte, das „who is who“ und die Buffets standen im Vordergrund. Das wollte ich dann mit einer eigenen Galerie und einem anderen Konzept ändern. Das war damals der Plan.“ Ein Plan der aufging, und das bereits nach kurzer Zeit. „Am Anfang dachte ich, ich müsste den Künstlern nachlaufen, dass sie ihre Bilder bei mir präsentieren. Aber schon nach der Eröffnung waren Ausstellungen für die nächsten zwei Jahre gebucht. Im zweiten Jahr stellten beispielsweise Künstler aus den USA bei mir aus. Es gab ein Vakuum in Stuttgart, das ich gefüllt habe. Im Grunde existierte damals in Stuttgart nur eine Fotobuchhandlung, in der sich Fotobegeisterte getroffen haben, Fotokurse und Ausstellungen vielleicht mal in der Volkshochschule.“

„MEINE KRITERIEN? QUALITÄT DER ARBEITEN, ERKENNBARES KONZEPT, BESTIMMTE TECHNIK – AUSSERGEWÖHNLICHES. MIR GEHT ES NICHT UM GROSSE NAMEN. MIR IST ES WICHTIG, MIT DEN KÜNSTLERN EINE ENTWICKLUNG DURCHZUMACHEN.“

KEIMZELLE NEUER TALENTE

„Die Stuttgarter Galerieszene hat mich anfangs übrigens gar nicht ernst genommen. Der Landesverband Galerien in Baden-Württemberg e.V. lehnte mich ab, da ich auch nicht-akademische Künstler akzeptierte“, blickt Norbert Nieser zurück. Lächelnd und gelassen, er hat den Durchbruch auch ohne die Vereinsmitgliedschaft geschafft. „Ich dachte mir, ich komme aus der Wirtschaft, habe genug finanzielle Mittel und weiß, wie man das anpackt. Ich fand damals schnell Sponsoren, nahm 30.000 Mark in die Hand und mietete in Ludwigsburg eine Halle mit 1000 m2 für eine Vernissage der Werke von Claus Rudolph. Die Ausstellung hat uns beide einen großen Schritt nach vorn gebracht.“ Die Bilder von Claus Rudolph zieren auch heute noch wiederkehrend die Wände der Galerie in Stuttgart. Zuletzt konnten Besucher der Neujahrsvernissage die Bilder des Künstlers begutachten, die eine ganz eigene Handschrift tragen – eine Handschrift, die mit den Motiven dekadenter Sinnlichkeit spielt, womit sich der Kreis zu erwähntem Décadence-Dichter schließen lässt. „Es
sind Illusionen, Traumwelten, die unerfüllte Sehnsüchte zeigen, vom prallen, üppigen Leben und vom Genuss, von Liebe, Sinnlichkeit und Leidenschaft. Die Dekadenz der Darstellung ist provokativ und lässt uns dadurch selbst das Hässliche noch schön erscheinen. Claus Rudolph zeigt uns aber auch die negativen Seiten des Lebens: Verlust, Tod und Trauer.“ Abgesehen von Claus Rudolph sind mit der Galerie auch andere Fotokünstlerinnen und -künstler groß geworden und haben sich mindestens innerhalb der Szene etablieren können, so zum Beispiel Jan Savua und Vince Voltage.

„MIR GEHT ES NICHT UM GROSSE NAMEN“

Vor allem die aufstrebenden Talente liegen Norbert Nieser am Herzen. Publicity und Namedropping interessieren ihn nicht. Aber wer darf dann in seine Galerie? „Meine Kriterien? Qualität der Arbeiten, erkennbares Konzept, bestimmte Technik – Außergewöhnliches. Mir geht es nicht um große Namen. Mir ist es wichtig, mit den Künstlern eine Entwicklung durchzumachen. Auch zwischenmenschliche Harmonie und Sympathie sind entscheidend. Ich habe viele bekannte Künstler abgelehnt, da ich keinen Draht zu ihnen gefunden habe. Denen habe ich mich verwehrt und ihre Bilder nie gezeigt“, betont der Galerist, der im Übrigen auch selbst Fotokünstler ist. Doch auch hier zeigt sich eine gewisse Bescheidenheit: „Ich habe meine Bilder selbst nie bei mir ausgestellt. Das fände ich peinlich. Natürlich hätte ich die Möglichkeit, in anderen Galerien meine Bilder zu präsentieren. Doch das würde viel Zeit erfordern: Es bräuchte ein Konzept, eine qualitative Auswahl, Organisation. Ich bin mit meiner Galerie und den Fotokursen so ausgelastet, dass mir nur sehr wenig Freizeit bleibt – und die möchte ich eben als freie Zeit erleben.“

KONTRAPUNKT ZUM PICTURE-OVERKILL

Walter Benjamin sprach in seinem berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ vom Aura-Verlust des Kunstwerks. Mit Aura meinte er, vereinfacht ausgedrückt, die Wirkung eines Werks auf den Rezipienten in der besonderen direkten Begegnung. Es ist zum Beispiel ein Unterschied, ob man Beethoven zufällig im Autoradio hört oder im Konzertsaal einem Orchester mit 70 Musikern aufmerksam lauscht, oder
ob man eine Postkarte mit einem Bild von Dalí betrachtet oder einem großen Original gegenübersteht. Den Overkill an Pictures & Shares im www konnte Benjamin nicht vorhersehen – und auch nicht deren steigenden Flüchtigkeitscharakter. Die Galerie Norbert Nieser setzt hier einen Kontrapunkt zur Überfülle und Rasanz unserer Zeit und ermöglicht noch so etwas wie ein auratisches Kunsterlebnis. „Wir leben doch in einer Welt der Überfütterung von Fotografien, insbesondere durch die sozialen Netzwerke. In unserer Galerie wollen wir das Publikum mit auf eine Reise der künstlerischen Fotografie nehmen – die Verweildauer der Besucher vor einer Arbeit gerne etwas verlängern und die Wahrnehmung schärfen und lenken.“ Ein Konzept, das nach wie vor Anklang findet. „Bei manchen Veranstaltungen bei uns im Haus können wir manchmal bis zu 200 Gäste begrüßen, und alles dreht sich um Fotografie“, sagt Norbert Nieser. „Künstler präsentieren wir quasi zum Anfassen – Newcomer und bekannte Fotografen.

Um fi nanziell unabhängig zu bleiben, habe ich mich entschlossen, zweigleisig zu fahren. Meinen konventionellen Beruf habe ich nie aufgegeben, und er hat mir in den Anfangszeiten die Freiheit eröffnet, nie auf die Verkaufsergebnisse schauen zu müssen. So konnte ich auch jungen unbekannten Künstlern immer eine Plattform für ihre Fotokunst bieten. Die letzten Jahre haben leider deutlich gezeigt, dass Vernissagen oft nur noch zu gesellschaftlichen Events mutiert sind, daher haben wir schnell die Notbremse gezogen und nur noch interessierte Personengruppen eingeladen. Lange Zeit war der Einlass zu einer unserer Vernissagen nur auf persönliche Einladung möglich. Das hat sehr gut funktioniert und das Partypublikum blieb dann aus. Somit standen wieder die Künstler und ihre Arbeiten im Vordergrund.

FOTOWERKSTATT – ZUR FÖRDERUNG DER FOTOKUNST

Ein weiteres fi nanzielles Standbein, das auch dem Galeriebetrieb zugutekommt, bilden die vielfältigen Fotoseminare, die Norbert Nieser anbietet. Schließlich nennt sich sein Unternehmen ja auch „Fotowerkstatt & Galerie“. Werkstatt heißt es nicht ohne Grund, denn Hands-on ist hier Programm: Trockene Theorie im Fotoseminar ist bei uns nicht drin, jedoch etwas davon muss sein. Rund achtzig Prozent der Kurse halte ich selbst, die anderen übernehmen Fotografen und -künstler. Wir vermitteln Knowhow, das sofort in der Praxis trainiert wird. Dabei ist es uns wichtig, Lernen mit Spaß zu verbinden. Wir decken dabei alles ab, von der SW-Fotografi e und der Entwicklung im eigenen Labor bis zur Photoshop-Bearbeitung.“ Die Förderung der Fotokunst in Form der Galerie zeigt sich in Verbindung mit der Werkstatt somit als geschlossenes Konzept, das intelligentes Wirtschaften und wirkungsvolle Kunstvermittlung erfolgreich vereint.

Bilder: © Norbert Nieser
Text: Dr. Christian Liederer | www.scriptory.de

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