Wer an der Mosel ohne Akku radelt, sollte gelassen in die Pedale treten. Denn der längste deutsche Nebenfluss von Vater Rhein lässt sich ebenfalls Zeit. Ein Mäander nach dem andern prägt das deutsche Moseltal ebenso wie die Rebhänge, auf denen vor allem in den Steillagen bei Trier und an der Untermosel bis Koblenz auf dem Schieferuntergrund die Trauben reifen, aus denen die Spitzenrieslingweine gekeltert werden. Das milde Klima hat einst die Römer angelockt, die neben der Porta Nigra in Trier moselabwärts noch weitere Denkmale hinterlassen haben, für die sich das Absteigen lohnt.
„Kaltgepresstes Hundefutter“ offeriert eine Reklametafel bei Brauneberg. Das beschauliche Dorf liegt an der Mosel und gilt als der wärmste Ort Deutschlands. Am Radweg warnt ein Schild: „Kein Winter- dienst“. Der Wanderer wundert sich. „Kalt- gepresst“? „Kein Winterdienst?“ Nehmen die Brauneberger den Klimawandel nicht ernst?
Die Mosel fließt an diesem Tag gelassen und mit normalem Wasserstand durch ihre Mäander. Der längste deutsche Nebenfluss des Rheins kann auch anders. Am 21. Dezember 1993 hat der Strom mit seinem höchsten gemessenen Pegelstand von 11,28 Metern die vor über 2000 Jahren von den Römern gegründete Stadt Trier überflutet. Böse Zungen behaupten, das sei die Strafe Gottes dafür, dass in der katholischsten Gemeinde Deutschlands (noch vor Paderborn und Ellwangen!) die meisten Prostituierten auf die Einwohnerzahl von rund 110.000 umgerechnet ihre Dienste an- bieten. Sicher, Frankreich und Luxemburg sind nicht fern. Und dann pilgern jährlich Zehntausende zum „Heiligen Rock“, der im Trierer Dom aufbewahrt wird, der ältesten Kirche Deutschlands mit den vermutlich meisten unterschiedlichen Stilelementen. Sünde und Seelenheil sind Geschwister. In der stockkatholischen Stadt hat ein Mann das Licht der Welt erblickt, dessen Haupt- werk wesentlich zu deren gesellschaftlicher Veränderung beigetragen hat: Karl Marx. Trier hat ihrem berühmtesten Sohn kein Denkmal gewidmet; dafür haben ihr die Chinesen eines geschenkt. An der Mosel hat man es zähneknirschend angenommen.
Doch zurück an den wärmsten Ort Deutsch- lands, den wir bisher am badischen Kaiserstuhl vermutet hatten. Ob es am kuscheligen Ort oder an der lauschigen Mosel liegt – jedenfalls stehen Wohnwagen und Wohn- mobile dicht an dicht an den ausgewiesenen Plätzen mit Flussblick. Bei der in Trier beginnenden Tour auf dem Moselradweg, dessen schönster Abschnitt von hier bis Koblenz reicht, sind die Radler indes schon durch einige andere Orte gekommen, die den gleichen Anblick bieten. Hier herrscht gefühlt die größte Dichte an Mobilheimen in der Republik. Die Nummernschilder weisen auf zahlreiche Camper aus dem Ruhrgebiet, den Beneluxstaaten und Frankreich hin. Deren Kisten verhindern zwar immer wieder die Aussicht auf den Strom; dafür stehen sie nicht vor den mit anderen Sehenswürdigkeiten reich bestückten Plätzen. Viele stammen noch aus der Zeit der Römer, die sich gerne auf der Sonnenseite der Landschaft aufhielten.
Als wichtigstes Zeugnis ihrer Herrschaft er- hebt sich im Norden der Altstadt von Trier, das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, der gewaltige Bau der „Porta Nigra“. Der Zahn der Zeit hat die palastartige Torburg dunkel gefärbt. Von römischer Lebensart künden die unter Konstantin dem Großen errichteten Kaiserthermen. Sie wurden zwar fertiggestellt, doch nie in Betrieb genom- men. Wer durch die Abwasserkanäle und die Gänge mit den Feuerstellen schreitet, mit denen die Hallenbäder beheizt worden sind, muss nicht einmal den Kopf einziehen. Man ist jedoch stark geneigt, demütig das Haupt zu neigen. Ganz winzig kommt man sich dagegen in der gigantischen Palastau- la vor, der heutigen protestantischen Konstantinbasilika. Den Protestantismus hatten die Preußen mitgebracht, die Trier am 6. Januar 1814 besetzten und erst nach dem Ende des 1. Weltkriegs wieder abgezogen waren.
Was Hygiene und effiziente Architektur betrifft, waren die Römer unseren germanischen Vorfahren Jahrhunderte voraus.
Rauflustig wie jene waren, zeigten die Ale- mannen und Franken und zwischendurch auch mal Attilas Hunnen den kultivierten Südländern jedoch, wo der Bartel den Most holt. Denen war daraufhin selbst der Mosel- wein zu sauer, weshalb sie Anfang des 5. Jahrhunderts zum Rückzug nach Südfrankreich bliesen.
Apropos Moselwein. Der Wanderer erinnert sich an ein rund 50 Jahre zurückliegendes Erlebnis. In einem angesagten Lokal am Rande des Ruhrgebiets erkundigte er sich beim Kellner, was man denn auf der Wein- karte stehen habe. „Rotwein, Weißwein und Mosel“ lautete die Auskunft. „Dann doch lieber ein Bier“, beschloss daraufhin der Gast. Moselwein war zu jener Zeit noch nicht der Renner. Heute muss man für einen „großen“ Riesling aus einer Steillage an der oberen Mosel bei Trier einen zweistelligen Betrag einkalkulieren. Überall scheinen hier Reben zu wachsen; selbst in Hängen, für die man schwindelfrei sein muss. Wie die Wanderer, die sich an jenem Tag bei brü- tender Hitze über den Moselsteig quälen. So geruhsam radelnd von unten betrachtet, juckt einen dessen Prädikat „Qualitätsweg Wanderbares Deutschland“ nicht die Bohne.
Nicht dass die Rebenfülle täuschen würde; tatsächlich beträgt der Anteil der Anbaufläche in Deutschland jedoch gerade mal fünf Prozent, europaweit nicht einmal 0,2 Prozent, wie ein Winzer vorrechnet. Weshalb ein großer Teil des Stoffes, in dem bekanntlich die Wahrheit ruht, gar nicht über Rhein- land-Pfalz hinaus gelangt. Er schmiert den Moselianern und deren Gästen die durstigen Kehlen. Ganz hervorragend als Mosecco (der Name „Prosecco“ ist geschützt), den die sympathischen Winzerwirtsleut des Weinguts Werner Lay in Pünderich in ihrer Strausswirtschaft den durstigen und müden Ankömmlingen kredenzen. Was für eine Labsal. Dazu ein von einem würzigen Stück Käse begleitetes herzhaftes Schwarzbrot – Herz, was begehrst du mehr. Die Lays machen sich indes gleich wieder auf in den Weinberg, wo jetzt erträgliche Temperaturen herrschen. Als sich die beiden Radler am nächsten Morgen ausgeruht an den prächtig eingedeckten Frühstückstisch setzen, sind die Gastgeber schon wieder bei der Arbeit oben im Weinberg. Dafür bringt ihr Sohn noch frische Brötchen.
Sehr gut gestärkt nehmen die Gäste die knapp 50 Kilometer lange Etappe nach Treis-Karden in Angriff. Eigentlich woll- ten sie auf die andere Seite des Stromes, doch der Fährmann ist krank. Was sich im Nachhinein als Glücksfall erweist, weil der Radweg meist beschattet ist. Den Gepäck- träger schwer beladen, müssen die beiden kräftig in die Pedale steigen. Was die Legionen von Pedelec-Lenkern, die ihnen entgegenkommen oder sie locker überholen, ganz offensichtlich nicht leisten müssen. Nicht wenigen sieht man an, dass sie auf ein Fahrrad zum Selbsttreten nicht steigen würden. Allen sieht man jedoch an, dass sie keinen Helm tragen…
Wenn einem die Sonne mit 40 Grad auf den Kopf brennt, fängt das Hirn unterm Helm an zu Kochen. Die Fahrt von Trier nach Tritten- heim wird mit ihren Anstiegen zur großen Herausforderung. Man hätte ja auch einen der Radelbusse der Moselbahn nehmen können. Doch zu Beginn der Tortour lässt diese Bequemlichkeit der Stolz noch nicht zu. Das Ende ihrer Reise in Sicht, werden die beiden dann ohne Skrupel Bus und Schiff nehmen. Brauneberg haben wir schon erwähnt. Andel noch nicht. Dort ist das Feriendomizil Roussell mit seiner charmanten Inhaberin und ihrem auf Sterneniveau kochenden Sohn ein Wohlfühlort schlechthin.
Frohgemut laufen die Räder am nächsten Tag wie von selbst nach dem von der Burgruine Landshut überragten Fachwerkkleinod Bernkastel-Kues. Als eine der zahl- reichen Sehenswürdigkeiten erwähnt der Kompass-Fahrradführer das „reich verzierte Heinzsche Haus“. Am von Touristenmassen bevölkerten Marktplatz angekommen, blicken die nach dem Bau befragten Bedienungen im Café ebenso fragend zurück. Nur eine Apothekerin nebenan kann das Rätsel lösen. Das Objekt der Begierde sieht tatsächlich aus wie ein an das Nebenhaus geklebter Erker. Leichter zu finden ist das Geburtshaus des frühhumanistischen Philosophen, Mathematikers und Theologen Nikolaus von Cues auf der anderen Moselseite – kein Tourist weit und breit zu sehen.
In Ediger-Eller schieben die beiden Radler ihre Fahrzeuge auf eines der großen Ausflugsschiffe, die regelmäßig den Strom befahren. In Treis-Karden gehen sie von Bord. Endstation. Mit der Bahn geht es zurück nach Trier, wo das Auto wartet. Und ein kühles Bier der Hausbrauerei des Hotels Blesius Garten. Hat wunderbar gezischt.
Wolfgang Nußbaumer