STEINZEIT IN DER REPUBLIK

Kolumne: Wolfs Revier

Welches Gefühl steigt in Ihnen auf bei dieser Situation: Sie wollen ganz selbstverständlich kurz einen Blick in öffentliche Ausstellungsräume werfen, die nach alter Tradition auch über die Mittagszeit zum Besuch einladen. Und stehen plötzlich vor verschlossener Tür. Ein Schild belehrt Sie, dass darüber hinaus die Öffnungszeiten stark eingeschränkt worden sind. Ein paar Schritte weiter steht eine Kirche. Ort der Stille, des Gebets, der Besinnung; Enklave des Inneren in einer Welt des Äußeren. Doch die Pforte ist verschlossen. Den Schlüssel gibt’s beim Mesner.

Ach, Sie brauchen noch Zahnpasta, Hemd und ein paar Socken? Kein Problem. Das Kaufhaus nebenan hat durchgehend geöffnet. Vielleicht in gar nicht so weiter Ferne rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche. Welches Gefühl steigt da in Ihnen auf? Stimmen unsere gesellschaftlichen Werterelationen noch, wenn dem Konsum Tür und Tor geöffnet und sie Kunst und Kontemplation vor der Nase zugemacht werden? Ist kein Geld da für die Rentnerin oder den Rentner, der in der Ausstellung für ein paar Euro Aufsicht führen könnte? Vielleicht würde auch jemand umsonst diesen Job machen, weil er ja nicht vergeblich ist. Kirchentür zu, weil sonst ein Dieb den Opferstock knacken oder eine Dumpfbacke an geweihtem Ort ihre Zerstörungswut ausleben könnte. Gleichzeitig mutet uns privates Fernsehen immer peinlichere Einblicke in das Seelen- und Sexualleben mehr oder weniger unbedarfter Mitmenschen und Scheinpromis zu. Big Brother kämpft sich in diversen Castingshows und Realitysoaps durch das Dschungelcamp der geistigen Notdurft. Und die Flut der Talkshows lässt sich mit wenigen Ausnahmen nur durch den Aus-Knopf am TV stoppen.

Muss man sich ja nicht antun, die Bohlens, Küblböcks und Klums dieser Welt (Auswahl beliebig). Diese Beispiele sind jedoch symptomatisch für zwei bedenkliche Entwicklungen: für eine zunehmende Verdinglichung und Ver-Äußerung der Gesellschaft und damit korrespondierend eine (in Spielshows (!) noch nutzbringend pervertierte) steigende Aggressivität. Wir können hier nicht tiefere Ursachenforschung betreiben. Beispielsweise darüber nachdenken, wie stetig sinkende Realeinkommen und die – nachweislich! – immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich in diesem wohlhabenden Land mit der immer grotesker werdenden Anmache zum Tanz ums Goldene Konsum-Kalb, exemplarisch die fröhlich gesungene Sparkassenwerbung, kompatibel sind. Oder mit dem lockeren Victory-Zeichen eines Bankchefs im Düsseldorfer Landgericht vor zwölf Jahren. Es ist schon eine Ewigkeit her, aber vielleicht erinnern Sie sich noch an den smarten Schweizer Josef Ackermann, der als Chef der Deutschen Bank mit einigen anderen Alphamännchen im Mannesmann-Prozess angeklagt war und 2006 mit einer Geldauflage davongekommen ist. Oder mit großzügig dotierten Beraterverträgen der öffentlichen Hand, die doch unser aller gebende und nehmende Extremität ist. Schon erstaunlich, wie viel Bodenhaftung beim Streben nach der Oberflächlichkeit des Daseins verloren gegangen ist. Ganz zu schweigen von der Bürgerferne der Besatzung des Regierungs-Raumschiffs in Berlin. Als Willy Brandt einst mit seinem rau rollenden „r“ von den Bürgerinnen und Bürgern sprach, hat man sich tatsächlich noch ernst genommen gefühlt.

Vielleicht versuchen deshalb immer mehr Häuslesbauer, ihre zur Zeit stetig im Wert steigenden Liegenschaften mit Steinmauern und Steinsäulen zu schützen. Manchmal setzen sie Lebensbaum-Hecken oder anderes Grünzeug davor, um den Wall zu tarnen. Möglicherweise wollen sie mit dem Verhau die grauen Herren von der Zeitsparkasse (Michael Ende: „Momo“) davon abhalten, ihnen Zeitsparverträge anzubieten. Als ob man Lebenszeit ansparen könnte. Oder sie haben einfach zu viel Schotter. Steinsäulen kosten zwar deutlich mehr als Grassamen und Gebüsch, sind jedoch pflegeleicht. Kosten also keine Zeit. Oder könnte es sein, dass in diesen eher grauen Steinkäfigen mehr als nur eine Modeerscheinung Ausdruck findet? Ein Symbol für das steinerne Herz, an dem die Gesellschaft krankt. Weil das Ich mehr zählt als das Wir.

Das Team dieses Magazins ist nicht auf dem Ego-Trip. Wir öffnen unsere Seiten, um zu zeigen wie bunt und vielfältig die Welt ist und wie lebenswert das Leben. Wir wollen keinen Stein zum Weinen bringen – es reicht schon, wenn er sich in eine Rose verwandelt.

Kulturpublizist Wolfgang Nußbaumer

Foto: Harald Habermann

 

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