REDEN, STATT SCHIESSEN

Wolfs Revier

Wie war das angeblich im Wilden Westen? Zuerst schießen, dann fragen. Deine Frage könnte ja möglicherweise sonst deine letzte gewesen sein. Tatsächlich schossen die Westmänner fraglos die Indianer und deren Lebensgrundlage, die Büffel, nieder, bis die „Rothäute“ sich in der Schlacht am Little Bighorn revanchierten und dem von Colonel George A. Custer befehligten 7. Kavallerie-Regiment eine vernichtende Niederlage bereiteten. Beteiligt waren Krieger der Sioux, Cheyenne und Arapaho, angeführt vom legendären Medizinmann und Kriegshäuptling Sitting Bull und den Anführern Crazy Horse und Big Foot. Ein Pyrrhus-Sieg, denn das Imperium schlug zurück. Mit gnadenloser Macht und Gewalt. Der militärischen Übermacht waren die Indianer bei aller Tapferkeit auf Dauer nicht gewachsen. Ihre Stämme wurden umgesiedelt und in Reservate gepfercht. Einige der Lakota-Häuptlinge begehrten dagegen auf und lieferten so den Vorwand für den Rachefeldzug wegen der Niederlage am Little Bighorn. Beim Massaker von Wounded Knee am 29. Dezember 1890 wurden rund 300 Männer, Frauen und Kinder sowie der auf Ausgleich bedachte Häuptling Spotted Elk (auch Big Foot und Si Tanka genannt) niedergemetzelt. Das Massaker von „My Lai“ im Vietnamkrieg hat seine amerikanische Tradition. (Was die noch weitaus schlimmeren Traditionen anderer Länder nicht relativieren soll!) Zwei Wochen zuvor war der Häuptling und Medizinmann Sitting Bull im Auftrag des Indianerbeauftragten James McLaughlin ermordet worden. Dem weißen Mann war ein – allerdings nicht mehr entscheidender – Coup gelungen. Im Verständnis der Prärie-Indianer ist ein Coup ein Ausweis persönlicher Tapferkeit. Im Idealfall schleicht der Krieger unbewaffnet ins Lager eines feindlichen Stammes und berührt dort jemanden. Kehrt er von dieser Mutprobe heil zurück, genießt er künftig höchstes Ansehen. Mit diesem Ethos ernteten die Ureinwohner Nordamerikas bei den weißen Kontrahenten höchstens ein verächtliches Lachen. Für sie war nur ein toter Indianer ein guter Indianer.

Gewalt gegen Minderheiten prägt bis heute das hässliche Gesicht der USA. Und der Präsident sieht da gerne weg. Schließlich ist es seine Klientel, die am liebsten an den Afroamerikanern ihr Mütchen kühlt. Gewalt wächst sich indes zunehmend zu einem Gesamtproblem sogenannter zivilisierter Gesellschaften aus. Die Beißhemmung funktioniert allzu häufig nicht mehr. Wer auf dem Boden liegt, wird noch getreten. Zuerst zuschlagen, dann fragen. Faust statt Worte. Über die Ursachen streiten sich die Gelehrten. Wo nur noch der wirtschaftliche Erfolg zählt, sticht der Ellenbogen klar Kants kategorischen Imperativ aus. Im konsumorientierten Sittenkodex spielt die Würde des Menschen höchstens als Behauptung eine Rolle. In der Praxis wird sie Tag für Tag als Ausfluss der Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche durch soziale und psychische Gewalt, die man auch Ausgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen nennen kann, ad absurdum geführt. Die Warenwelt als wahre Welt? Zu den heimtückischsten Waffen der Ellenbogengesellschaft zählt im digitalen Zeitalter die Attacke via Internet. Statt jemandem allein Auge in Auge entgegenzutreten, wird er oder sie gemobbt – anonym aus dem Hinterhalt. Und ist das Opfer online weichgeklopft, kann man ihm analog noch in der Überzahl den Rest geben. Entsprechende Meldungen in den Medien nehmen zu. Diese Feigheit korreliert mit einer zunehmenden Brutalisierung des Alltags und einer Verrohung der Sprache. Im gedruckten und überprüften Leserbrief in der Zeitung kann man nicht die atavistische Sau rauslassen – im worldwide web schon. Zumal man hervorragend im Meer der Server untertauchen kann.

Als eine der Ursachen ist die Verherrlichung der Gewalt durch Videospiele ausgemacht worden. Wer spielerisch ganze Regimenter umnietet, befindet sich in der gleichen Situation wie der GI im US-Stützpunkt Ramstein, der die Drohne im fernen Afghanistan ins Ziel steuert. Er sieht die Opfer nicht; denn sie sind nur Objekte ohne Fleisch und Blut, erfunden, um ausgelöscht zu werden. Neues Spiel, neu es Glück. Ob nun tatsächlich das Gefühl für richtig und falsch, für gut und böse durch den Abschussknopf an der Spielkonsole korrumpiert wird, wissen wir nicht. Die Wahrscheinlichkeit steigt jedoch mit der Zeit, die der Spieler auf dem digitalen Schlachtfeld verbringt.

Ich erinnere mich an eine Episode aus meiner Grundschulzeit. Ein Mitschüler, ein Hänfling mit großer Klappe hatte mich in einer Weise bis aufs Blut gereizt, die einen Zinédine Zidane 50 Jahre später zum Kopfstoß gegen den italienischen Verteidiger Marco Materazzi getrieben hat. Ich habe ihn mir daraufhin im Wortsinne zur Brust genommen und hätte ihn vermutlich hochkant die Steintreppen hinuntergeworfen, wenn mich einige andere aus der Klasse nicht festgehalten hätten. Der Junge hat dennoch nie wieder eine abfällige Bemerkung gemacht. Im Internet stoppt niemand die herabwürdigende Obszönität. Und die Hilflosigkeit veranlasst den einen oder die andere, sich mit gleicher Münze zu wehren. Die schon erwähnte Verrohung der Sprache im Netz bedingt deren Reduktion. Wer hat schon Zeit, ausgefeilte Beschimpfungen zu tippen. In der realen Welt lautet der analoge Klassiker „Was guckst du“. Hört sich allerdings auch nicht nach dem Anfang einer längeren Unterhaltung an. Dann macht es auch schon wumm. Wie einst im Wilden Westen. Nein, dem Internet kann man den Mangel an Respekt, Akzeptanz und Fähigkeit zum sprachlichen Diskurs nicht in die Schuhe schieben. Da muss sich jeder an die eigene Nase fassen. Ach ja, Eltern haften für ihre Kinder. Nicht nur vor dem Gesetz. Nein sagen, das wäre ein Coup!

Text: Wolfgang Nußbaumer

 

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