DIE SERENISSIMA RUHT AUF PFÄHLEN

Wo die Gondeln selten Trauer tragen – dafür Touristen aus aller Welt. Venedig ist für viele Menschen nach wie vor ein Synonym für großartige bildende, musikalische und cineastische Kunst.

Fährt man mit dem Vaporetto, dem Linienboot von San Zaccaria unweit des Markusplatzes zum Lido, kommt man an der Isola di San Lazzaro vorbei; der Insel des Hl. Lazzaro. Im Unterschied zum langgestreckten Eiland, das durch seine Filmfestspiele – und den langen Sandstrand – zum touristischen Magneten geworden ist, herrscht auf dem kleinen Flecken Erde im Canale di San Marco himmlische Ruhe. Dessen Bewohner schätzen die Stille – die Mönche des armenischen Klosters Mekhitarist. 1717 von dem armenischen Mönch Mekhitar gemeinsam mit 17 weiteren Glaubensbrüdern gegründet, hat sich das Kloster bis heute zu einem der wichtigsten Zentren der armenischen Kultur entwickelt. Allein seine Bibliothek umfasst rund 200 000 Bände. Bei der 56. Biennale vor drei Jahren hat es den armenischen Pavillon beherbergt, der mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet worden ist.

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Das Jahr 2015 hatte einen hohen Symbolgehalt für die Armenier. Ein Jahrhundert zuvor hatte der Genozid durch das Osmanische Reich rund 1,5 Millionen von ihnen das Leben gekostet. Dieser Völkermord wird bis heute von der offiziellen Türkei vehement geleugnet. Umso wichtiger war San Lazzaro in der venetischen Lagune für die Erhaltung des kulturellen Erbes und damit der armenischen Identität. Dieses Erbe kann indes nur dann im Bewusstsein der Nachgeborenen weiter existieren, wenn man es ihnen zugänglich macht. Deshalb fahren selten, aber regelmäßig Vaporettos die Insel an. Wer die auf Pfählen gegründete Kunstmetropole besucht, sollte einen Abstecher zu den Mekhitaristen einplanen. Schon der Stille wegen, wenn man dem quirligen Leben einmal entgehen will.

Es gibt noch eine andere Möglichkeit, in der pulsierenden „Serenissima“ Ruhe zu finden. Im Gegensatz zur schon Jahrhunderte währenden Akzeptanz, die den Frieden des armenischen Klosters garantiert, sichern ihn im Campo del Ghetto Polizei und Soldaten. Scharf be- und überwacht ist das jüdische Viertel, das vermutlich älteste Ghetto der Welt. Die meisten Bewohner sind im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten nach Deutschland deportiert und ermordet worden. Und die Juden, die heute in dem Quartier leben, machen alles andere als einen frohgemuten Eindruck. Was man angesichts der Uniformierten in ihren Wachhäusern, den Stacheldrahtrollen auf den hohen Mauern und dem aktuellen politischen Rechtsruck in Italien nur allzu gut verstehen kann. Ein beklemmendes Gefühl steigt in den Besuchern aus Deutschland auf. Auf dieser Ruhe lastet Angst.

Zurück am Canal Grande steht man mitten im touristischen Trubel, der an der prächtigen, im 16. Jahrhundert errichteten Rialtobrücke kulminiert. Es gibt nicht viele Gelegenheiten, die von zahlreichen Palästen gesäumte Hauptwasserstraße zu Fuß zu überqueren. Ersatzweise kann man in eine Gondel steigen – ein kleines Abenteuer im Verkehr der Wasserfahrzeuge aller Art. Besser, man benutzt eines der vielen Linienboote, die auf den Kanälen der Stadt unterwegs sind. Bequemer kann man in Venedig nicht flanieren. Per pedes hat allerdings auch seinen Reiz. Weil man so die reizenden Plätze abseits der Touristenpisten erreicht; durch schmale Gässchen und auf und ab über zahlreiche Treppen.

Fern von der Hochpreis- und gelegentlichen Hochwasserzone des Markusplatzes steht man plötzlich vor einem Ledergeschäft. Die jungen Besitzer wollen gerade schließen. Wäre da nicht diese hinreißende rote Lederhandtasche. Rasch ist man sich handelseinig. Ein Schnäppchen, das dennoch beide Seiten glücklich macht. Einige Biegungen des Weges weiter, elektrisiert ein Namenszug – die Guggenheim Collection. Max Ernsts Frau Peggy, eine gebürtige Amerikanerin aus vermögendem Hause, hat ihre gigantische Sammlung „ihrer“ Stadt vererbt. Sich die Kunst nicht anzusehen, wäre genau so, wie zur Biennale nach Venedig zu fahren und weder die Pavillons in den Giardini noch die im Arsenale aufzusuchen. Oder den Markusdom links liegen zu lassen. Es kann sein, dass man den Dom von der südlich gelegenen Insel Giudecca aus sowieso nicht sieht, weil sich auf dem breiten Kanal gerade ein Schiffskoloss vorbeischiebt. Dann wird die berühmte Altstadt ganz klein – und der Ärger ganz groß. Die umstrittene Stadtpolitik lassen wir aber mal außen vor.

Es gibt viele Unterlassungssünden, die man in der aus 118 Inseln bestehenden und von rund 175 Kanälen durchzogenen Serenissima begehen kann. Nicht über den Fischmarkt schlendern, keinen Blick in das pompöse Caffè Florian unter den Arkaden am Markusplatz werfen, sich nicht an der fragilen Kunst im Museo del Vitro auf der Glasbläserinsel Murano begeistern, sich nicht einfach treiben zu lassen…

Fotos & Text: Wolfgang Nußbaumer

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