WIRBELSTURM UNTER DEN TALAREN

NICHT DIEJENIGEN, DIE DEN AUFBRUCH WAGTNEN HABEN SICH ZU RECHTFERTIGEN.

Das Jahr 1968 kennzeichnet den Zeitpunkt der gesellschaftlichen Werteveränderung. Gefordert wurden: sexuelle Freiheit, Demokratie, Umweltschutz und die Entnazifizierung.

Die 68er sind alt geworden. 50 Jahre sind vergangen, seit „der Planet Feuer fing“, wie sich Daniel Cohn-Bendit erinnert. Der Publizist und Grünen-Politiker war im Mai 1968 der wichtigste Wortführer der französischen Studenten in Paris. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich hat er im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mitgemischt. Eines von dessen Schlagworten hieß „Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren“. Konkret gemeint, war das Tausendjährige Nazi-Reich, das gerade mal zwölf – allerdings furchtbare – Jahre ins Buch der deutschen Geschichte geschrieben hat. Etliche der Hochschullehrer hatten eine braune Vergangenheit. Bis dato hatte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr nicht stattgefunden. Sieht man einmal von den drei Auschwitzprozessen in Frankfurt zwischen 1963 und 1968 ab. Sie waren entscheidend – und mühselig – von dem sozialdemokratischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer angestoßen und geführt worden. Der verstorbene Ellwanger Künstler Karlheinz Knoedler hat unter dem Eindruck des ersten Prozesses einen bedrückenden und aufrüttelnden schwarzweißen Bilderzyklus geschaffen, der zuletzt in der ehemaligen Synagoge in Bopfingen-Oberdorf gezeigt worden ist.

ZYNISCHE INITIALZÜNDUNG

Die Ära des ersten Kanzlers der jungen Republik war vor allem vom wirtschaftlichen Wiederaufbau und damit vom Wirtschaftswunder geprägt. Der VW-Käfer war wichtiger, als die überkommenen Werte zu hinterfragen. Das geschah spätestens, als der Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wurde. Zusammen mit dem Attentat auf den charismatischen Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April des Folgejahres vor dem SDS-Büro am Kurfürstendamm war diese „Hinrichtung“ gleichsam die zynische Initialzündung für bundesweite Aktionen der linken westdeutschen Studentenbewegung der 1960er-Jahre. Deren Reizthemen waren der ausbeuterische Kapitalismus, eine parlamentarische Demokratie, die nur den Reichen diente, die Notstandsgesetze, der Vietnamkrieg und als rechte publizistische Gallionsfigur der Axel-Springer-Verlag. Dagegen setzte sie die emanzipatorische Forderung nach Basisdemokratie, einer grundlegenden Hochschul- und Bildungsreform, nach sexueller Selbstbestimmung und antiautoritärer Erziehung. Mit ähnlichen Forderungen machten auch Studierende in Frankreich und in den USA (Bürgerrechtsbewegung) mobil.

„WER ZWEIMAL MIT DER SELBEN PENNT, GEHÖRT SCHON ZUM ESTABLISHMENT.“

Sein blumig-freizügiges Pendant hatte der westdeutsche Studentenprotest in der Hippiebewegung in den USA. Diese fand in dem Musical „Hair“ ihr musikalisches Monument. Für den amerikanischen Schauspieler und Sänger Ron Williams gab es „eine künstlerische Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Unruhe der Jugend.“ Im Sternbild des „Wassermann“ geboren, war für mich der Besuch des Musicals, als es in der deutschen Fassung auf die Bühnen kam, schon wegen des ersten Songs „Aquarius“ ein Muss. Vom Slogan der Hippies „Make love, not war“, mit dem sie insbesondere gegen den Vietnamkrieg protestierten, der viele der jungen wehrpflichtigen Amerikaner das Leben gekostet hat, blieb als emanzipatorische Aufforderung vor allem dessen erster Teil in den Köpfen der linken deutschen Studenten hängen. „Wer zweimal mit der selben pennt, gehört schon zum Establishment“, lautete ein geflügeltes Wort. Ihre Kommilitoninnen fanden es weniger lustig. Sie durften für die Asta-Bosse Kaffee kochen, Flugblätter tippen und zur Regelung von deren Testosteronlevel herhalten. Lange konnte das nicht gut gehen.

KEIN WANDEL AUF DER OSTALB

Der Fokus dieser Erinnerung liegt indes nicht bei den Folgen sondern auf dem Jahr, das der Philosoph Peter Sloterdijk als „das dichteste Jahr der Weltgeschichte“ charakterisiert hat. Während der radikale Bewusstseinswandel auf der Ostalb weder in der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd noch in der damaligen staatlichen Ingenieursschule in Aalen aufschien, sah das in den Hochschulstädten des Südweststaates wie am Beispiel Tübingen ganz anders aus. Unterschiedlich indes von Fakultät zu Fakultät. Auf die Juristen traf zu, was der „Achtundsechziger“ Peter Schneider in seiner autobiografischen Erzählung „Rebellion und Wahn“ so beschreibt: „Nicht diejenigen, die den Aufbruch wagten, haben sich zu rechtfertigen. Sondern die anderen, die nach dem Zivilisationsbruch des Dritten Reiches glaubten, in den Schuhen und Anzügen ihrer Väter ihrer Karriere nachgehen zu können, als wäre nichts geschehen.“ Sie haben übrigens damals – wie zuvor und danach – in imposanten Verbindungsvillen logiert.

In einer Politikvorlesung des Staatsrats und Staatsrechtlers Prof. Theodor Eschenburg, auf dessen Vergangenheit nach jüngeren Forschungen ein brauner Schatten ruht, brach einmal Feuer aus. Eng begrenzt auf die rechte Jackentasche des Hochschullehrers, in der Eschenburg zu Beginn seine Pfeife zu verstauen pflegte. Es kam niemand zu Schaden. Gleiches gilt für Klaus von Beyme. Der junge Politologe, der später einem Ruf an die Uni Heidelberg gefolgt ist, zeigte sich im Hörsaal gesprächsbereit. Nicht jedoch einige SDS-Angehörige. Sie bewarfen den Mann von Adel mit profanen Tomaten. Damals noch sehr beweglich, suchte der Professor Deckung hinter seinem Katheder, das nach dem Bombardement ebenso wenig gut aussah, wie Eschenburgs Jackentasche. Gleichwohl wurde auch ernsthaft studiert, nachdem man den Parolen des in lupenreinem Hochdeutsch in sein Megafon rufenden Kommilitonen vor dem Asta-Büro eine Zeit lang zugehört hatte. Es wurde sogar möglich, gemeinschaftlich Referate und Semesterarbeiten zu erarbeiten. Über Noten konnte man diskutieren. Pflicht war, gegen Pflichten zu opponieren. Irgendwann lief die linke Bewegung aus dem Ruder, radikalisierte sich der Protest hin zur Gewalt. Schon 1970 wurde von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof die später so genannte Rote Armee Fraktion (RAF) gegründet. Deren Blutspur führt in den „Deutschen Herbst“ mit der Entführung und Ermordung des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Martin Schleyer. Doch das ist eine andere Geschichte.

„ALLE DIE JETZT AUFGESTANDEN SIND SOLLEN SICH WIDERSETZEN“

Neben dieser extremen Entscheidung zur sinnlosen Gewalt hat dieses legendäre Jahr doch auch Positives bewirkt. Ohne 1968 gäbe es wohl keine Grüne Partei, gäbe es keine Emanzipation gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, bliebe „Gender“ (soziales Geschlecht) eine begriffliche Marginalie und sexuelle Selbstbestimmung problematisch. Ganz zu schweigen von der Gleichstellung der Geschlechter. Letztere tut sich in der Praxis mit dem „Gleich“ noch schwer. 1968. Das Jubiläumsjahr liegt zwischen dem „Summer of Love“ (1967) und dem „Summer of ’69“. Letzterer bezeichnet allerdings kein Jahr; es ist der Titel eines der bekanntesten Hits des kanadischen Rocksängers Bryan Adams aus dem Jahr 1984. Herauszufinden, was er bedeutet, überlassen wir der emanzipierten Fantasie unserer Leserinnen und Leser.

Text: Wolfgang Nußbaumer

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