«Die Höhle lebt» – Vom Blick in unbekannte Welten

Ein Loch in der Erde. Muss man da hinein steigen?
ARCHIV - Ein präparierter Grottenolm wird am 22.03.2016 in der Hermannshöhle in Rübeland (Sachsen-Anhalt) ausgestellt. Die seltenen Grottenolme haben hier Eier gelegt. Insgesamt sieben Exemplare der rund 30 Zentimeter langen Schwanzlurch-Art leben hier seit etwa 80 Jahren. Die 1866 entdeckte Schauhöhle mit ihren unterirdischen Kristallkammern und Seen gilt im Harz als Touristenattraktion und wird jährlich von knapp 75.000 Menschen besucht. Foto: Jens Wolf/dpa-Zentralbild/dpa

«Die Höhle lebt» – Vom Blick in unbekannte Welten

Ein Loch in der Erde. Muss man da hinein steigen? Seit Zehntausenden von Jahren zieht es Menschen in Höhlen. Ging es am Anfang der Menschheit um Schutz und Überleben, dominiert heute der Entdeckergeist. Ein Ausflug in die Unterwelt.

München (dpa) – Sand bedeckt den Höhlenboden. Wasser tropft von oben herab, es hat kleine Kuhlen und an manchen Stellen winzige Tropfsteine gebildet. Einer aus der Gruppe setzt den Fuß in den Sand – sein Abdruck ist der wohl allererste hier unten: ein komisches Gefühl, erhebend und traurig zugleich. Denn der über Jahrtausende gewachsene, unberührte Zustand ist damit zerstört.
Ein halbes Dutzend erfahrene Bergführer sind mit Seilen, Klettergurten, Helmen und Haken losgezogen, um diese noch namenlose, bisher unbekannte Höhle am Fuße des Vulkans Lanin in den chilenischen Anden zu erkunden. Sie liegt an der Grenze zu Argentinien. Nun stehen sie nach nur einer halben Stunde einfachen Fußmarsches am Ende der Lavaröhre. Sie schauen hinauf zu bizarren Felsformationen. Einer entdeckt darin ein Haifischmaul, bei dem Tropfsteine die Zähne sind. Ein anderer meint eine Jungfrauengestalt zu erkennen. Ein Dritter wäre zu gerne noch weiter und tiefer in die Erde vorgedrungen. Doch die Höhle endet hier.

ENTDECKERGEIST
Höhlen locken Menschen seit jeher an. Suchten unsere Vorfahren dort Schutz, so treiben Höhlenforscher heute Neugier, Abenteuerlust und Entdeckergeist.
Raumfahrer kennen diese Faszination. Science-Fiction-Filme entführen uns in aufregende, ferne Galaxien. Der französische Schriftsteller Jules Verne lässt seine Fans weit ins Erdinnere blicken («Die Reise zum Mittelpunkt der Erde»), aber auch in die Tiefe des Meeres («20 000 Meilen unter dem Meer»).
Bergsteiger wiederum wetteifern um die Erstbesteigung der höchsten Berge und schwierigsten Wände. Dabei ist heute auf der Erdoberfläche fast jeder Berg erklommen. In der Tiefe jedoch existieren weiter Gegenden und Landschaften, die noch nie ein Mensch gesehen hat.
Erstbegehungen von Höhlen faszinieren Neugierige rund um den Globus. «Immer wieder neue Hallen, neue Gänge finden. Die Unberührtheit in einer Höhle, das Ungewisse – was erwartet uns hinter dem Schein der Lampe oder nach der nächsten Stufe? Das ist die Faszination», sagt der Münchner Höhlenforscher Peter Forster. «Das ist der Motor für unsere Leidenschaft.»

VIELE HÖHLEN SIND BIS HEUTE UNERFORSCHT
Höhlen gibt es schließlich weltweit. Manche sind durch Gesteinsbewegungen oder Erosion entstanden. Andere haben sich zeitgleich mit dem Gestein, das sie umgibt, gebildet – wie die Lavahöhle am Lanin. Die meisten der Gewölbe und Gangsysteme entstehen durch die Kraft des Wassers im löslichen Untergrund.
Alleine in den Alpen sind Tausende von Höhlen bekannt. Und viele liegen noch in den Bergmassiven verborgen. Manchmal sehen Entdecker nur ein unscheinbares, zugewuchertes Loch. Und lediglich das geübte Auge erkennt, dass sich dahinter womöglich ein riesiges unterirdisches Labyrinth versteckt.
Nicht zuletzt der Klimawandel öffnet neue Zugänge, die bisher mit Eis verschlossen waren. Zugleich lassen sich Höhlen als Klimaarchive lesen, wie Bärbel Vogel, Vorsitzende des Verbandes der deutschen Höhlen- und Karstforscher, erzählt. Denn Tropfsteine und Höhleneis konservieren die Spuren des Klimageschehens der vergangenen Jahrtausende.
Tropfsteine haben so etwas wie die Jahresringe bei Bäumen. Diese geben Aufschluss über Temperaturen und Niederschläge. Eine dicke Steinschicht zeugt von viel Regen. Außerdem wächst ein Tropfstein stärker, wenn es wärmer ist – weil sich der Kalk besser abscheidet.

«DIE HÖHLE LEBT»
Für Bärbel Vogel sind die unterirdischen Hallen und Tunnel deshalb nichts Statisches. Sie verändern sich ständig. Wasser sucht sich neue Wege – und bildet damit neue Gänge. Eis wächst oder schwindet. «Die Höhle lebt. Sie bildet sich ständig – und vergeht», schwärmt Vogel.
Vor einiger Zeit drang Höhlenfan Peter Forster mit Freunden tiefer als je zuvor in ein Gewölbe im Lattengebirge in den Berchtesgadener Alpen vor. Das Eis hatte sich zurückgezogen und einen Zugang geöffnet.
Zwischen Eissäulen schlängelten sich die Forscher durch, seilten sich über einen Eisfall hinunter – und standen plötzlich in einer bläulich schimmernden, mit Eis noch immer weit zugewachsenen Halle. Sie sahen: Danach folgt eine weitere Halle. Doch sie ist noch voll Eis. Endstation. Vorerst. «Kann sein, dass die Halle mit der Klimaerwärmung irgendwann aufgeht», sagt Forster. Klar, dass der 51-Jährige zurückkehren wird – um ein Stück tiefer vorzustoßen ins Unbekannte.
Für schwierige Ausflüge in die Tiefe müssen die Abenteurer Unmengen an Material einpacken: Seil, Haken, Karabiner, Bohrmaschine, Schlafsack, Kocher. Die Nächte im Biwak sind kalt und feucht. Viele nehmen anstelle moderner Stirnlampen Karbidlampen mit Gasflasche mit – obwohl sie schon mal ausgehen können. «Wenn es richtig kalt ist, wärmt die Flasche», sagt Forster. Ein mehrtägiger Ausflug in die Tiefe stellt auch die Psyche auf die Probe. Tag und Nacht wirken dort gleich. Zeiten verschwimmen. Karbidlampen geben hier ein warmes Licht. «Man fühlt sich dadurch besser.»

TOUREN IN SCHAUHÖHLEN SIND BELIEBT 
Einen Beruf «Höhlenforscher» gibt es allerdings gar nicht. Vielmehr versuchen begeisterte Hydrogeologen, Biologen, Paläontologen, Geologen und Archäologen, den Geheimnissen unter der Erde auf die Spur zu kommen. An Universitäten fristet der Bereich in den Fakultäten oft ein Randdasein. Vielfach haben sich so Hobbyforscher als Experten etabliert.
Geforscht wird in Deutschland etwa in der Wendelsteinhöhle bei Bayrischzell. Das Labyrinth der Gänge des 1836 Meter hohen Berges ist schon lange bekannt. 573 Meter weit und 106 Meter tief sind die Experten darin schon vorgedrungen. Außerdem führen Forster und seine Kollegen auch völlige Neulinge in die Höhle in Oberbayern. Denn Teile des Gangsystems sind als Schauhöhle ausgebaut. Diese Touren sind auf Wochen vorher ausgebucht.

INTERESSE FÜR HÖHLEN STEIGT
Seit der spektakulären Rettung des Forschers Johann Westhauser im Sommer 2014 aus der Riesendinghöhle bei Berchtesgaden ist in der Öffentlichkeit das Interesse an Höhlen gestiegen. In 1000 Metern Tiefe hatte ein Stein Westhauser am Kopf getroffen, er erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Elf Tage mühten sich Retter aus fünf Ländern, ihn aus Deutschlands tiefster Höhle nach oben zu holen.
«Auf einem Boden stehen, auf dem noch kein anderer stand», so beschrieben Kollegen Westhausers, die bei der Bergung halfen, ihre Begeisterung. Die Welt unter der Erde bietet neue Blicke: Seen, Tropfsteine in fantastischen Formen, tiefe Schächte, im Schein der Stirnlampe schillerndes Eis. Und Dimensionen, die kaum zu fassen sind. Wie groß mag die Felsfigur am Ende des Saales sein? Wenn Vergleiche wie Bäume und Autos fehlen, ist eine schnelle Schätzung fast unmöglich.

TIERE OHNE AUGEN UND OHNE PIGMENT
Mit Fallen sammelten die Experten in den vergangenen zwei Jahren aus der Wendelsteinhöhle und sechs anderen Gewölben 13 000 Tiere ein. Dabei zählten sie mehr als 200 Arten. Bei einer Höhlenwasserassel und einem Höhlenflohkrebs aus der Wendelsteinhöhle könnte es sich um bisher unbekannte Wesen handeln, berichtet der Fuldaer Höhlentierspezialist Stefan Zaenker, der die Untersuchung leitete.
Von beiden Tieren werden zusammen mit der Zoologischen Staatssammlung in München die Erbanlagen bestimmt. Sie sollen mit einer weltweiten DNA-Datenbank abgeglichen werden. «Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass das Arten sind, die wir bisher nicht kannten. Ich bin ganz gespannt», sagt Zaenker (51), der im Alltag Finanzbeamter ist. «Es gibt Forscher, die fahren an den Amazonas, um neue Arten zu entdecken. Das schaffen wir hier in der Höhle.»
Gerade Höhlenflohkrebse, die Zaenker als Jugendlicher sammelte, hatten bei ihm die Leidenschaft für die Welt der Tiere unter der Erde geweckt. «Ich konnte in keinem Bestimmungsbuch finden, was das für Tiere sind», erinnert er sich. Schon damals mochte er fast nicht glauben: «Mitten in Deutschland gibt es Arten, die man nicht bestimmen kann.»
Die Evolution und auch das Leben laufen tief unten langsamer als oben auf der Erde. Die Kühle sorgt für einen reduzierten Stoffwechsel, und es gibt weniger Fressfeinde. «Wir sehen, dass die Tiere teilweise zehnmal länger leben als die Tiere draußen», sagt Zaenker. Ein normaler Bachflohkrebs werde einige Monate alt, der Höhlenflohkrebs ein paar Jahre.
Die Arten im Halbdunkeln der Eingänge und tief drin in der ewigen Nacht bilden ein eigenes Ökosystem. Sie besitzen besondere Lebensweisen. Viele Bewohner der Dauer-Dunkelheit haben weder Pigment als Farbstoff noch Augen. Etwa der Grottenolm, eine den Salamandern verwandte Art. Weil das Nahrungsangebot so gering ist, bleiben die meisten echten Höhlenbewohner nur einige Millimeter klein.
Wer mit Peter Forster auf Exkursion geht, bekommt diese Tiere eher nicht zu sehen. Hinweise auf Leben dort unten geben nur die bräunlichen Stäbchen, die wie verbogene Zahnstocher aussehen: Fledermausknochen. Forster leuchtet sie an. Mit geschultem Auge sind sie zwischen den millimeterhohen Mini-Tropfsteinen am Boden zu finden.

 

ARCHIV – Die Tropfsteinformation (Stalagmit) “Kreuzigungsgruppe”, aufgenommen am 13.03.2010 in der Teufelshöhle in Pottenstein in der Fränkischen Schweiz. Die Gesamtlänge der Teufelshöhle beträgt circa 3.000 Meter, von denen etwa die Hälfte in einer geführten Tour besichtigt werden kann. Foto: David Ebener/dpa

 

ERKENNTNISSE FÜR DIE HYDROLOGIE
Wasser fließt in den meisten Höhlen. Doch woher kommt es? Und wohin fließt es? Der 1859 geborene Franzose Édouard Alfred Martel, Pionier der Höhlenforschung, kam einmal schwer krank von einer Tour zurück. Etwas später untersuchte er die Höhle bachaufwärts und fand einen Karst-Einbruch mit totem Vieh. Die verwesenden Kadaver hatten das Wasser verseucht.
Heute geben Höhlenforscher gelegentlich Farbstoffe ins Wasser, um herauszufinden, wo es wieder austritt – etwa um Wassereinzugsgebiete zu schützen. Salzburg zum Beispiel bezieht sein Wasser teils aus dem Untersberg und den unterirdischen Wasserläufen der Riesendinghöhle.

TOURISTENATTRAKTION SCHON VOR ÜBER HUNDERT JAHREN
Am Wendelstein lockte das Abenteuer Höhle schon früh die Menschen. Dort, am 1883 erbauten Wendelsteinhaus, gab es bereits vor mehr als hundert Jahren Fackeln und Seile für eine Begehung zu leihen. «Besondere Anzüge, Lichter (…) werden vom Pächter verabfolgt», schrieb August Edelmann in seinem 1887 veröffentlichten Reiseführer «Der Wendelstein im bayerischen Hochland». Und weiter: «Schon die Vorhalle bildet einen natürlichen Eiskeller. Kalte Luft weht uns entgegen. Wassertropfen fallen monoton herab.»
Damals waren es vorwiegend erfahrene Berggänger, die sich über den steinschlaggefährdeten natürlichen Zugang in den Schlund wagten. Heute kann man die Wendelsteinhöhle fast als Touristenmagneten bezeichnen.
Ein künstlich geschaffener Eingang unweit des Gipfelkreuzes führt über 82 Stufen in die Tiefe. Der vordere Bereich ist beleuchtet und gut ausgebaut. Es ist die höchstgelegene Schauhöhle Deutschlands.
Bis zum Dom, etwa 200 Meter vom Eingang entfernt, kommen Besucher sogar alleine. Ein Kruzifix markiert den Endpunkt für die Einzeltouren. Hier hatten die Begeher schon Ende des 19. Jahrhunderts ehrfürchtig ein Muttergottesbild und ein Kreuz angebracht.
Fröstelnd stehen Besucher selbst an einem warmen Sommertag in kurzen Hosen und T-Shirts in dem Gewölbe. Mit dieser Kälte haben die meisten nicht gerechnet. In Höhlen in unseren Breiten liegt die Temperatur konstant zu jeder Jahreszeit zwischen sechs und neun Grad, in der Wendelsteinhöhle ist es sogar noch etwas kühler.

«EINE SEHR GUTE LUFT IST HIER DRIN»
Wer mit Peter Forster unterwegs ist, darf noch weiter vordringen. Er führt seine Gruppe tiefer hinein, über glitschigen Fels und enge Schächte klettern seine Begleiter vorwärts. Sie ducken sich unter Felsen durch.
Metalltritte erleichtern an schwierigen Stellen den Weg durch den schluchtartigen Herz-Canyon bis in die Herzkammer. «Eine sehr gute Luft ist hier drin», stellen die Tour-Teilnehmer fest. In manchen Höhlen gibt es deshalb Therapien bei Asthma und Allergien. Die hohe Luftfeuchtigkeit kondensiert Wasser an Partikeln, die zu Boden sinken. Die Luft ist reizarm. Der hohe Kohlendioxid-Gehalt hat zudem beruhigende Wirkung.
Die Höhlenkletterer bewegen nach ihrem Ausflug in Bayern zunächst ganz andere Gefühle: «Ein Abenteuer», schwärmen die Teilnehmer. Und: «Eine ganz neue Erfahrung.» Fast wie der erste menschliche Fußabdruck in einer Höhle in den Anden.

 

Von Sabine Dobel (Text) und Matthias Balk (Foto), dpa

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