DAMIT DIE ERINNERUNG LEBENDIG BLEIBT

Die Wohngemeinschaft Weinbachhaus ist umgezogen. Von Wasseralfingen nach Neubronn. Die kleine WG ist ein Ort der Geborgenheit. Fünf an Demenz erkrankte Menschen werden dort begleitet, betreut und gepflegt. Meist bis zu ihrem Tod.

Über den Rand des Spülbeckens quillt der Schaum. Theo dreht mit zitternder Hand den Wasserhahn auf, zieht eine Porzellantasse aus dem Abwaschwasser und hält sie kurz unter den Wasserstrahl. Er stellt die tropfnasse Tasse zur Seite, dreht den Hahn wieder zu, nickt und lacht. Ohne die Hände abzutrocknen läuft er mit ganz kleinen Schritten langsam in Richtung Wohnzimmer. Das liegt direkt neben der Küche. Karin Zander läuft hinterher und ruft: „Theo deine Hände.“ Sie trocknet ihn ab und setzt sich zurück an den großen Esstisch, der in der Küche steht.

Theo ist einer der Bewohner der Wohngemeinschaft und 86 Jahre alt. Und die besteht aus fünf, an Demenz erkrankten Menschen, der Altenpflegerin Karin Zander und Sabine Schrocke. Karin Zander ist nicht nur Altenpflegerin, sondern auch gerontopsychiatrische Fachkraft. Ihr privater Bereich befindet sich im Obergeschoss des Wohnhauses. Und dieses Haus bietet genug Platz für alle. Mit über 150 Quadratmetern auf jeder Etage haben alle Bewohner Raum für sich und ihre Ideen. Im Erdgeschoss wohnt die Pflegedienstleiterin Sabine Schrocke. In der Mitte, auf einer Etage, also behindertengerecht, die zu betreuenden Personen. Hier befinden sich nicht nur die Zimmer der Dementen, sondern auch das gemeinsame Wohnzimmer, die Küche und das Bad, sowie die Toilette und ein großer Balkon. Treppen müssen sie so nicht steigen. Theo ist ein Neuzugang. Er kam mit seiner Frau Theres (83 Jahre). Früher habe er gern seiner Frau beim Abwasch geholfen, dass hätten die Angehörigen erzählt, so Karin Zander. „Also lasse ich ihn auch hier bei uns den Abwasch machen“, fügt die Altenpflegerin hinzu und zwinkert. Sie wisse, dass dies nicht hygienisch einwandfrei sei, aber hier in der Wohngemeinschaft dürfe sich jeder Demenzkranke an der Erledigung alltäglicher Aufgaben beteiligen. Das Wohnumfeld sollte möglichst normal sein, so sei das Konzept: Alltag statt Therapie.

Manuela Manz heute mit ihren Kindern im Weinbachhaus.

Theos Abwasch wandert später dann in die Spülmaschine und wird noch einmal professionell gereinigt. Davon bekommt Theo aber nichts mit. Das sei wichtig für das Selbstwertgefühl, weiß Zander. Und für den Lebenswillen. Das Konzept sei ein spezielles Modell, bei dem Karin Zander die Wohngemeinschaft, ihren Aufwand wie einen ambulanten Dienst abrechnet. Zusätzlich bezahlen die Angehörigen Geld für Miete und Verpflegung, sie sind eine Auftraggebergemeinschaft. Die Angehörigen bestimmen so auch, was in der Wohngemeinschaft Weinbachhaus geschieht. Wenn es um die Vorbereitungen für seine goldene Hochzeit geht, reden die Pflegerinnen ganz offen mit Theo und beziehen ihn in die Planung mit ein. 50 Jahre Ehe und noch immer endet der Tag der beiden, indem Theo seiner Frau Theres einen Gutenacht-Kuss gibt. Die Pflegerinnen finden das rührend, beide leben allein. Karin Zanders Mann, der mit ihr das Weinbachhaus gründete, starb vor einem Jahr. Auch Sabine Schrocke lebte allein. Die beiden Frauen haben sich solidarisiert, und wohnen nun seit kurzer Zeit unter einem Dach und packen auch alle Aufgaben gemeinsam an. Mit Stefanie Geiger sind sie drei examinierte Altenpflegerinnen, die alle vorher als Pflegedienstleitungen in großen Altenheimen gearbeitet haben. Doch die dortigen Abläufe, die Bürokratie und die Vorgaben, waren nicht mehr mit ihrer Vorstellung von Pflege vereinbar gewesen. „In diesem System bleibt der Mensch auf der Strecke“, meint Schrocke. Die drei Fachkräfte bekommen Unterstützung von einem Helfer und fünf weiteren Präsenzkräften.

Eine der Präsenzkräfte ist Manuela Manz. Sie ist keine gelernte Altenpflegerin. Bis zur Geburt ihrer drei Kinder war sie im Vertrieb tätig. Jetzt hilft sie, wenn die Kleinen im Kindergarten sind, im Weinbachhaus. Das soll übrigens umbenannt werden. Denn die Wohngemeinschaft zog um und zwar in ein größeres Haus nach Neubronn. So wird das Weinbachhaus bald „Neubronner Neschdle“ heißen, verrät Karin Zander. Ab und an dürfen auch die Kinder von Manuela Manz mit zu den Senioren. Denn die freuen sich über Besuch immer ganz besonders. Auch sonst findet das einzigartige Wohnprojekt in der Nachbarschaft großen Zuspruch. Man kommt vorbei, es wird gemeinsam gekocht, gelacht, geredet und manchmal auch geweint. Wie in einer echten Familie. Die fünf Demenzkranken sind immer mitten im Geschehen. Neubronns Dorfgemeinschaft ist stark und hält zusammen. Dass der Garten einer Renovierung bedarf und man ihn startklar für das Frühjahr macht, hat man gemeinsam beschlossen. Nachbarn lässt man nicht im Stich. Und schon gar nicht, wenn sie so nett wie Karin Zander sind. Hilfe bekommt die Leiterin der Wohngemeinschaft auch von den Angehörigen der Senioren, auch bei den Arbeiten rund um Haus und Hof. Man kooperiert, Freundschaften entstehen, Bindungen wachsen und festigen sich. „Viele Angehörige kommen auch noch nach dem Tod des Vaters oder der Mutter zu Besuch oder zu unserem Stammtisch“, sagt Zander. Man habe viel gemeinsam erlebt, dass verbindet.

Die Gemeinschaftsküche, das Herz des Hauses, dient auch als Besprechungszimmer. Hier wird das Essen zubereitet, gegessen, geredet und gelacht.

Mittlerweile ist es Mittag. Es klingelt an der Tür. Mogli bellt laut. Der pechschwarze Hütehund sieht mit seinen 13 Jahren nicht mehr so gut, hören kann er dafür umso besser und riechen. Er rennt zurück in die Küche. Wer interessiert sich schon für den Briefträger, wenn ich der Küche die Vorbereitungen für das Mittagessen auf Hochtouren laufen. Die Nachbarin Jessica Gossau sitzt mit Hermine am Küchentisch, es wird geschnippelt und gelacht. Hermine ist sehr langsam. Sie ist in ihrer Aufmerksamkeit stark beeinträchtigt. Das liegt an ihrer Parkinson-Demenz. „Patienten mit dieser Demenzform leiden auch oft an Depressionen und Halluzinationen“, erklärt eine der Fachkräfte. Rund 40 verschiedene Formen von Demenz gibt es, doch den meisten Menschen sei nur Alzheimer ein Begriff. Das Korsakov-Syndrom ist auch eine Form der Gedächtnisstörung. „In den allermeisten Fällen ist das Korsakow-Syndrom die Folge langjährigen Alkoholmissbrauchs“, weiß Schrocke. Man könne die unterschiedlichen Formen der Demenz nicht auf dieselbe Art begleiten. Jeder Bewohner benötigt eine bestimmte Versorgung und Begleitung.

Gegessen wird gemeinsam, heute gibt es Spaghetti Bolognese. Am Tisch sitzen nicht nur die fünf Senioren, sondern auch die Nachbarin, deren Kinder, Karin Zander, Manuela Manz und auch Sabine Schrocke. Gelächter hallt durch das Haus, der Hund liegt zufrieden auf dem Fußboden und döst vor sich hin. Am späten Nachmittag kommen die Bewohner zur Ruhe. Sie sitzen im großen Wohnzimmer um den Tisch herum. Der steht vor der mächtigen Fensterfront. Die Sonne geht langsam unter. Blutrot versinkt der Horizont in ihren letzten Strahlen. Niemand spricht. Still ist es im Raum geworden. Konrad starrt in irgendeine Ferne. Er lächelt dabei. Der 95-Jährige ist ein „Notfall“ und nur zur Kurzzeitpflege da. Er kam nirgends unter. Alle Heime voll. „Das ist eine Ausnahme“, erklärt Zander. Die der Zufall bedinge, denn in der Regel seien bei ihr immer alle fünf Plätze belegt.

Nicht immer ist der Tag so harmonisch. Oft müsse man sich anschreien, anspucken oder schlagen lassen. Das dürfe man nicht persönlich nehmen, meint die Altenpflegerin. Sie habe ihre Facharbeit der Aggressionen gegen das Pflegepersonal gewidmet. Aus Zanders Sicht war das wichtig. Eben auch einmal die andere Seite zu beleuchten. Trotz der vielen Belastungen liebe sie ihren Beruf. Mit der Gründung der Wohngemeinschaft habe sie etwas ändern wollen, besser machen. Das Ziel sei gewesen, durch eine gewisse Selbstbestimmtheit der Lebensführung im Rahmen der Gemeinschaft eine erhöhte Lebensqualität zu erreichen. Dass Karin Zander dieses Ziel erreicht hat sieht man, den dementen Bewohnen, die alle die höchste Pflegestufe haben an. Sie wirken entspannt und zufrieden.

Sabine Schrocke fängt langsam an aufzuräumen. Auf dem Tisch liegen die Lebensbücher. Gemeinsam wurde darin geblättert. Jeder Bewohner hat ein eigenes Lebensbuch. Die erstellt Karin Zander gemeinsam mit den Angehörigen. Darin ist alles notiert, Lieblingslieder, Lieblingsspeisen oder Gedichte. Auch Bilder kleben im Album, eine Haarlocke der Enkelin. Ein ganzes Leben mit akribischer Genauigkeit kurz und prägnant dokumentiert. Damit die Erinnerung lebendig bleibt. Die meisten Bewohner schlafen schon, es ist spät geworden. Nur Hermine singt noch leise Kirchenlieder. „Das macht sie die ganze Nacht lang“, sagt Schrocke und lacht.

Wohngemeinschaft Weinbachhaus Karin Zander Altenpflegerin und gerontopsychiatrische Fachkraft Hohenstaufenstraße 7 73453 Abtsgmünd-Neubronn Telefon: 07366 7069787 www.weinbachhaus.de

Text: Susanne Rötter // Fotos: Volker Adler

Den Herd bekam Karin Zander von ihrem Mann geschenkt. Die Tochter hatte sich damit beim SWR Fernsehen für die Sendung “Lieblingsstücke – abgestaubt und aufgemöbelt” beworben und gewonnen. So wurde der Herd restauriert und steht nun in der Gemeinschaftsküche.

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