FRAGILE FREIHEIT

VOR DEM HINTERGRUND „100 JAHRE OKTOBERREVOLUTION“ ERINNERT DIE EHEMALIGE DDR-BÜRGERIN KARIN SORGER AN DEN WERT DER FREIHEIT.

„Im Rahmen der politisch-operativen Sicherung der Transitwege wurde am 06.02.1977 Dr. Sorger, Karin, tätig als Ärztin im Pathologischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, auf Grund verdächtiger Verhaltensweisen vorläufig festgenommen. Es besteht der begründete Verdacht der Vorbereitung einer Straftat gem. § 213 StgB.“ – Ein Auszug aus der Stasi-Akte Karin Sorgers, die in ihrer Autobiografie „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit“ zu finden ist. Der Bericht dokumentiert eine unrühmliche Vergangenheit der DDR. Als Zeitzeugin hat es sich Karin Sorger, die später lange Jahre in Göppingen als Chefärztin verbrachte und nun in Baden-Baden lebt, zur Aufgabe gemacht, an diese Epoche zu erinnern: zu erinnern, wie fragil die Freiheit sein kann – und sich bewusst zu machen, wie wertvoll sie ist und wie wenig selbstverständlich.

DAS ERLEBNIS DER UNFREIHEIT
§ 213, der im Bericht des DDR-Majors Reinicke angeführt wird, behandelt den „ungesetzlichen Grenzübertritt“, eine strafbare Handlung, für die in schweren Fällen eine Strafe von ein bis acht Jahren Freiheitsentzug vorgesehen war. Karin Sorger musste nach ihrer Verhaftung zehn Monate im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck verbringen. Ein Gefängnis, in dem Politische wie Kriminelle saßen, darunter auch ehemalige KZ-Aufseherinnen. „Ich habe in den zehn Monaten mehr gelernt als ich in zehn Jahren aus Büchern hätte lernen können“, blickt Karin Sorger auf ihre Haft zurück. Es ist erstaunlich und sehr charakteristisch für die 78-jährige, dass sie sogar einem harten Schicksalsschlag noch etwas Positives abgewinnen kann. Karin Sorger war zum Zeitpunkt der Festnahme 37 Jahre – und hatte tatsächlich ihre Flucht geplant. Bei der Suche der Stelle, an der sie mit ihrer kleinen Tochter später in ein Schleuserfahrzeug zusteigen wollte, wurde sie erwischt. Die Inhaftierung war sicher die massivste Form staatlicher Repression, die Karin Sorger in ihrer DDR-Zeit erleben musste. Doch Erlebnisse der Unfreiheit lassen sich viele auf dem Faden ihres Lebens aufreihen.

„NIEMAND HAT DIE ABSICHT, EINE MAUER ZU ERRICHTEN.“
Drehen wir noch einmal das Rad der Zeit zurück, sogar noch etwas weiter, ganze 16 Jahre vor der Inhaftierung. Die Republik ist noch jung, das Leben noch unbeschwert: Es ist der 13. August 1961. Der Ort die Mecklenburgische Seenplatte. Karin Sorger, damals noch Medizinstudentin, und ihr Freund sind mit Zelt und Paddelboot unterwegs. „Damals durfte man noch frei in der Wildnis zelten. Wir hatten uns mit allerlei Essbarem, vor allem mit Konservendosen, eingedeckt, deren Inhalt wir auf einem Propangaskocher wärmten. Wir hörten aus einem Kofferradio die Mitteilung, dass die Grenzübergänge in Berlin geschlossen würden und für DDR-Bürger nicht mehr passierbar wären. In der Umgebung von Berlin seien vermehrt Truppenbewegungen der Nationalen Volksarmee beobachtet worden. Ich erstarrte vor Entsetzen und sagte spontan zu meinem Freund: ‘Jetzt können sie alles mit uns machen. Wir leben fortan in einem großen Zuchthaus.‘ Ich schlug vor, dass wir sofort unsere Zelte in Mecklenburg abbrechen und versuchen sollten, doch noch in Berlin in den Westsektor durchzukommen, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass man in einer Nacht eine ganze Stadt teilen könne.“ Wenige Wochen zuvor, am 30. Juni 1961, hatte Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz noch verkündet: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Später wurde den Bürgern hinter dem Eisernen Vorhang die Mauer als antifaschistischer
Schutzwall gegen die westdeutschen Imperialisten verkauft – Euphemismen, die kaum verschleiern konnten, dass der Staat die zuvor immer stärker abwandernden Bürger nicht ziehen lassen wollte. „Doch wir blieben, wir wollten uns nach dem Studium eine gemeinsame Existenz aufbauen, in der Umgebung von Berlin oder Potsdam; dann könnten wir mal zum Ku’Damm fahren und ins Kino gehen oder uns bei Leiser ein Paar Schuhe kaufen.“

„WER MIT 30 NOCH KOMMUNIST IST, HAT KEINEN VERSTAND.“
„Wie naiv wir doch gewesen waren! Der ganze Apparat wurde seit jenem Tag im August immer restriktiver“, erklärt Karin Sorger. „Als Ärztin hatte ich später Publikationsverbot im Westen, die Fachzeitschriften von dort waren nicht mehr frei verfügbar, zu Kongressen durfte ich nicht ausreisen. Das sind nur ein paar von vielen Beispielen. Auch hatten wir als Akademiker im Staat der Arbeiter klare Nachteile. Viele Jahre wohnten mein Mann und ich mit unserer kleinen Tochter auf engstem Raum zur Untermiete in einer 1,5-Zimmerwohnung, Bad und Küche mussten wir uns mit den Vermietern teilen – während eine Arbeiterfamilie, die möglichst noch in der Partei war, in der gleichen Situation eine eigene 3-Zimmerwohnung zugeteilt bekam.“ Einen bestimmten Zeitpunkt, an dem es für Karin Sorger hieß „Jetzt muss ich raus hier!“ gab es nicht. Vielmehr waren es viele Ereignisse, die nach und nach im Fluchtgedanken resultierten. Anfangs war sie noch überzeugt von der sozialistischen Idee, hat Marx gelesen und seinen Ideen zugestimmt. Den Arbeitern soll es gut gehen – daran war nichts falsch. In der Theorie. Aber der real existierende Sozialismus mit seiner Misswirtschaft, seiner Ungerechtigkeit, der Diktatur des Proletariats, schließlich der Machtanspruch der SED – damit konnte kein freiheitsliebender Mensch konform gehen. „Wer mit 18 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch Kommunist ist, hat keinen Verstand“ – ein Satz, den Karin Sorger gerne zitiert.

BEGEGNUNG MIT DEM MINISTERIUM FÜR STAATSSICHERHEIT
Staatliche Gewalt in Form von Restriktion war schließlich allgegenwärtig. In vielen Formen. „Begegnet bin ich der Stasi übrigens bereits schon vor meinem Fluchtversuch. 1976 machte die Staatssicherheit offenbar eine Werbekampagne unter den Ärzten. Ich war für die Behörde damals noch unauffällig in politischer Hinsicht. Ohne die geringste Vorahnung bekam ich während der Arbeit einen Anruf, ich solle ins Dekanat kommen. Das war in der Regel nichts Gutes. Ich sagte meinem Vorgesetzten Bescheid; der meinte, es ginge wahrscheinlich um meine Habilitation. Ich solle mir keine Sorgen machen. Der Treffpunkt war auf dem Klinikgelände. Doch während ich in den Raum ging, der mir zugewiesen wurde, merkte ich ‘da stimmt etwas nicht!‘ Man entwickelt Rezeptoren für solche Situationen. Ich trat ein in ein langgestrecktes Zimmer, an dessen Ende zwei Männer saßen, die viele Meter weit von mir entfernt waren. Sie wären vom Ministerium für Staatssicherheit, sagten sie. Sofort fühlte ich mich wie bei einer Vernehmung; der Angstschweiß stand mir im Nacken. Durch merkwürdige Fragen versuchten sie, mich anfangs zu verunsichern und psychologisch in die Defensive zu drängen, um zu testen, ob ich für ihre Zwecke geeignet wäre. Da mir nichts vorzuwerfen war, forderten sie mich schließlich auf, Kollegen zu bespitzeln. Ich entgegnete, dass ich jemand sei, der sich nicht verstellen könne und dass ich zu einer solchen Tätigkeit nicht bereit sei. Ich erinnerte mich auch an die Worte meines Vaters, niemals bei einem Geheimdienst mitzumachen.“ Aus dem Gefängnis kam sie später durch einen Freikauf der Bundesrepublik, der durch einen Freund im Westen angestoßen wurde. Ende 1977 war Karin Sorger auf der anderen Seite der Mauer, in Freiheit. Ihre Tochter konnte sie nachholen.

FREI VON VERBITTERUNG
2017 blickt die Welt auf 100 Jahre Oktoberrevolution zurück, jene Erhebung, die eher ein Militärputsch war und die als Keimzelle der späteren Sowjetunion gilt. Im Laufe der historischen Entwicklung bildete sich ein restriktiver Staatsapparat, ein eiserner Rahmen, auch in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, in der Karin Sorger die Hälfte ihres Lebens verbrachte. Wie Deutschland und Berlin geteilt wurden, so geht mit dem Wechsel von Ost nach West auch ein Schnitt durch die Biografie Karin Sorgers. Ob sie nach dem Psychoterror von Verhören und dem Eingesperrtsein noch an die Menschheit glaube, beantwortet sie mit einem klaren „Ja, natürlich glaube ich noch an das Gute im Menschen!“ Freiheit, so hat sie am eigenen Leib erfahren, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein hoher Wert – und folgt man dem Titel ihrer Autobiografie das „Geheimnis des Glücks“. Für Freiheit muss immer wieder gekämpft werden. Karin Sorger führt diesen Kampf als Zeitzeugin in Form von Interviews, Vorträgen und als Autorin. Sie führt ihn friedlich, ohne Ressentiments, ohne Aggression oder Anklagen. Trotz ihrer Erlebnisse ist Karin Sorger frei von Verbitterung und Hass – auch das ist Freiheit.

Text: Dr. Christian Liederer Bilder: Karin Sorger

Karin Sorger: DAS GEHEIMNIS DES GLÜCKS IST DIE FREIHEIT. 

Helios-Verlag. ISBN 978-3-869 33-151-5

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